Konsum und keine Kohle
Auch ein Grimme-Preisträger hat Schulden: $ick, der eigentlich Andre Welter heißt, hat laut eigener Aussage in den 80ern, 90ern und Anfang der 2000er Jahre drei bis vier Millionen D-Mark verprasst. „Ich habe das Geld für Stoff ausgegeben“, erzählt der 52-Jährige. Woher er so viel Geld hatte? Ladendiebstähle, oft mehrere pro Nacht. Ungläubiges Schweigen im Solarlux-Forum. „So ein Leben bringt dir nur Altlasten und Schulden ohne Ende. Ich habe 15 Jahre lang nur in Päckchen, Beutel und Tüten gedacht.“
$ick war in Begleitung von Paul Lücke, Geschäftsführer des Stigma e.V., in Melle zu Gast. Eingeladen hatten der Paritätische Kreisverband Osnabrück und der Verbund Sozialer Dienste. Seit April 2023 sind sie für die soziale Schuldnerberatung im Südkreis zuständig. Außer der Hauptstelle in Melle an der Haferstraße 9 gibt es noch drei weitere Außenstellen in Georgsmarienhütte, Bad Iburg und Dissen. „Wir sehen unsere präventive Arbeit darin, den hilfesuchenden Menschen aufzuzeigen, dass es jedem Menschen, aus allen Schichten, passieren kann, in eine prekäre Situation wie der Verschuldung und Überschuldung zu geraten. Wir möchten mit solchen Abenden sozusagen Gesicht zeigen. Sie sollen Mut machen, sich professionelle Hilfe bei uns zu holen und bei Betroffenen auch die Scham davor abzubauen“, sagt Schuldnerberaterin Heidi Wöllner.

$ick war nach Werner Hansch nämlich schon der zweite Gast mit mahnenden Worten im Solarlux-Forum. 2015 erhielt er den Grimme Online-Award in der Kategorie Publikumspreis. Mit seinem Buch „Shore, Stein, Papier“, vor allem aber mit den Clips auf Youtube seit 2012, leistet er bundesweit Aufklärungsarbeit. „Ich jage immer noch das bestmögliche Gefühl, aber nicht mehr mit Substanzen. Gott sei Dank hat mich diese Arbeit gefunden“, sagt $ick, wenngleich er zugeben musste: „In meiner Drogenzeit habe ich keine offiziellen Schulden gemacht – wie auch ohne Konto oder Ausweis? Heute habe ich Schulden.“
„Konsum. Kriminalität. Keine Kohle. Lernen aus Lebenserfahrung.“ lautete der Titel des Abends, und $ick berichtete schonungslos offen aus seiner Vergangenheit: „Meine Konsumgeschichte startete mit 13 Jahren. Ich habe nie gelernt, mit Emotionen umzugehen. Meine Mutter konnte das auch nicht.“ Der Umzug aus dem Süden Deutschlands nach Hannover sollte sein Leben verändern. Auf dem Weg in die neue Heimat habe sein Stiefvater ihn an der Raststätte als „unerwünschtes Mitbringsel“ bezeichnet. Andre vernebelt seine Gefühle fortan mit Drogen. „Mein Freundeskreis in Hannover hat gekifft. Dadurch habe ich mich besser gefühlt und Anschluss gefunden“, erzählt er.

Doch es dauert nicht lange, bis er Zugang zu härteren Drogen erhält. Eines Abends, auf einer Party, entdeckt er seine Clique in einem Waschraum. Alle hatten Schweiß auf der Stirn, obwohl es kalt war. „Wir rauchen Shore“ lautete die Antwort auf seine Frage, was denn hier los sei. Shore ist in der Drogenszene ein Synonym für Heroin. Die Warnung „Das macht voll süchtig“ ignorierte er. „Ich habe die Wirkung in deren Gesichtern gesehen und wollte dazugehören. Von der ersten Sekunde an war mir dann klar: So will ich mich immer fühlen.“
Die Clique sei von dem 12-jährigen Christoph mit Stoff versorgt worden. Sein großer Bruder hatte eine Haftstrafe abgesessen und sich wieder zu Hause eingenistet und von dort aus Drogen verkauft. Die Mutter habe Angst vor ihm gehabt und sei zurück nach Polen gegangen. Die Jungen blieben alleine zurück. Christoph habe unauffällig kleine Löcher in die Tütchen gestochen und etwas Stoff abgezweigt. Das halbe Gramm habe eigentlich 160 Mark gekostet, für $ick und seine Freunde war es zunächst umsonst.

„Ich habe die Toleranzgrenze jeden Tag nach oben gepusht, bis zu 800 Mark am Tag“, erinnert sich der 52-Jährige. „Ich konnte mich nüchtern nicht ertragen.“ Um seinen Konsum zu finanzieren, beginnt er mit Ladendiebstählen: „Ich konnte im ersten Buch noch nicht alle Geschichten niederschreiben, weil zu dem Zeitpunkt manche Straftaten noch nicht verjährt waren“, schmunzelt $ick. Jetzt schreibe er ein zweites Buch.
Kurz vor seinem 18. Geburtstag wurde seiner Mutter klar, welches Leben ihr Sohn führte. Da er nicht gewillt war, sein Leben zu ordnen, setzte sie ihn vor die Tür. „Drei Tage nach meinem 18. Geburtstag standen all meine Sachen im Treppenhaus, und das Schloss war ausgetauscht.“ Die Polizei habe ihn abführen müssen.
Mit der Polizei gerät er immer wieder in Konflikt. Einmal wird er zu zwei Jahren und zehn Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Sein dritter Fluchtversuch aus der JVA Hameln verläuft erfolgreich, erst nach elf Wochen wird er gefasst: „Auf der Flucht habe ich Ecstasy kennengelernt. Nach der Haftentlassung habe ich mir sofort Nachschub besorgt.“

Er zieht andere Dealer ab und muss die Konsequenzen tragen. Im Wald, mit einer Waffe am Kopf, sei er aufgefordert worden, den Wert wiederzubeschaffen, den er aus dem Auto eines Dealers in Form von Stoff geklaut hatte. Dem Tod ist er einige Male nahe, so auch im Herbst 1995. Innerhalb von zehn Monaten habe er aus seinem Körper ein Nadelkissen gemacht. „Die Verhaftung an jenem Abend hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet“, meint er.
Erst mit der Geburt seiner Tochter im Jahr 2003 setzt langsam ein Umdenken ein. Seit 2012 ist er von den Drogen ab. „Ich bin noch Cannabis-Patient. Das brauche ich, alles andere habe ich im Griff“, so $ick. Zuerst habe er den Kopf aufgeräumt, jetzt sei der Körper dran: „Ich möchte mein Leben aufrechterhalten, ohne Faxen zu machen.“
Mit Lebensgeschichten wie der von $ick möchte der Stigma e.V. eine Verbindung zu den Zuhörerinnen und Zuhörern aufbauen. Am Vormittag hatten Paul Lücke und $ick zu den 11. und 12. Klassen der IGS Melle gesprochen. Einerseits gehe es darum, das Thema Abhängigkeit in den Schulen verstärkt in den Blick zu nehmen. „Aber die Schule sollte generell mehr Lebenswirklichkeiten wie etwa das Thema Finanzen aufgreifen“, so Lückes Forderung. Im Bereich Gaming könne man zum Beispiel so viel dazu kaufen. Dabei sowie bei anderen Käufen gibt es oft die Option „Buy Now, Pay Later“. „Und dann kommt irgendwann der Superhammer“, warnte er.

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