Neues Kapitel im Sonnenwinkel
Erst ein Hotel, dann ein Müttergenesungsheim, später eine Familienferienstätte und jetzt eine Berufsfachschule: Das Haus Sonnenwinkel auf dem Essenerberg hatte im Laufe der Jahrzehnte verschiedene Funktionen. Deshalb sprach Bad Essens Bürgermeister Timo Natemeyer bei der Eröffnungsfeier der Akademie Sonnenwinkel zurecht von „einem neuen Kapitel in diesem Haus“. Der Weg von der Vision zur Realität sei lang gewesen: „Und nun freue ich mich, diesen einmaligen Moment erleben zu dürfen.“

Die „BBS Bad Essen – Akademie Sonnenwinkel“ ist in Trägerschaft des Verbunds Sozialer Dienste (VSD). Lena Kerlfeld bildet gemeinsam mit Tim Ellmer die Geschäftsführung des VSD. Sie sagte: „Wir freuen uns sehr, heute hier stehen zu können. Wir stehen aber erst am Anfang und sind noch lange nicht am Ziel.“ Ellmer räumte schmunzelnd ein, dass sich die Idee, eine Schule zu eröffnen, nicht ganz so einfach umsetzen lässt. „Aber jeder einzelne Gast in diesem Raum hat in irgendeiner Form dazu beigetragen“, stellte er fest, und Lena Kerlfeld ergänzte: „Wir sind stolz auf alle, die uns auf diesem Weg geholfen haben.“ Ein wesentlicher Schlüssel zum Gelingen sei gewesen, dass die Paritätische Lebenshilfe Schaumburg-Weserbergland GmbH ihr Curriculum zur Verfügung gestellt habe.
Die Schülerinnen und Schüler streben den Abschluss Sozialpädagogische Assistenz Plus (SPA+) an. Dieses Modellvorhaben qualifiziert sie für die Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe – vorerst aber nur in niedersächsischen Einrichtungen. In Kindertagesstätten sowie im Ganztag können sie mit diesem Abschluss jedoch auch bundesweit tätig werden. „Wir suchen Menschen mit Mut und Haltung“, so die VSD-Geschäftsführerin. Den Mut der Schülerinnen und Schüler einerseits, aber auch der Lehrkräfte andererseits, lobten beide.

Einer dieser mutigen Menschen ist Reinhard Meyer. Der Schulleiter erinnerte sich an die erste Kontaktaufnahme. „Tim hat mich in den Ferien morgens um 7.30 Uhr angerufen“, verriet er. Es sei ein bemerkenswerter Moment, wenn eine neue Schule eröffnet wird. „Das werde ich wohl nicht noch einmal in meiner Karriere erleben.“ „Das hoffen wir“, lautete Ellmers Zwischenruf.
Normalerweise komme man an eine Schule und passe sich dem System an. Das sei hier anders. „Es ist eine schöne Atmosphäre und eine großartige Chance. Wir haben bewusst klein angefangen. Ich sehe das als Vorteil“, sagte Meyer. „Wir können reflektieren, was die Schülerinnen und Schüler im Berufsalltag erleben und diese Erfahrungen in den Unterricht aufnehmen.“ Mit acht Schülerinnen und Schülern ist die erste Klasse SPA+ im August gestartet. An drei Tagen pro Woche sind sie in der Einrichtung ihres jeweiligen Praxispartners, an zwei Tagen besuchen sie die Schule. „Ich habe großen Respekt vor ihnen, dass sie den Mut haben, etwas Neues zu wagen.“ Der 18-monatige, vergütete Abschluss richtet sich nämlich vor allem an Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger, die bereits eine andere Berufsausbildung abgeschlossen haben. Meyer schloss seine Rede und ermunterte die Gäste: „Kommen Sie gern vorbei und schauen Sie uns über die Schulter. Wir wollen Teil des Lebens und der Gesellschaft in Bad Essen sein.“
Und dabei möchte die Gemeinde behilflich sein. „Wir wollen euch so unterstützen, dass ihr euch so entwickeln könnt, wie ihr es euch wünscht“, versicherte Bürgermeister Natemeyer. Er würdigte die Pionierarbeit, die hier geleistet wurde, und sagte: „Die Jugendhilfe braucht gut ausgebildete Menschen. Es ist ein anspruchsvolles, aber immer wichtigeres Tätigkeitsfeld.“

Auch der Landkreis Osnabrück war in dem Prozess von der Idee bis zur Umsetzung involviert. Kreisrat Matthias Selle ist sich sicher: „Das wird ein Erfolg, das kann ich mir gar nicht anders vorstellen vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die wir gesammelt haben.“ Der Verbund Sozialer Dienste habe wieder mal ein sinnvolles Projekt angestoßen: „Wir arbeiten gern mit dem VSD zusammen. Ich kann mich noch gut an ein Flugzeug erinnern.“ Damit spielte er auf Kinder aus griechischen Flüchtlingslagern an, die im Frühjahr 2020 im Haus Sonnenwinkel aufgenommen und betreut wurden, bevor sie bei Verwandten in Deutschland oder in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht werden konnten. Ein Team des VSD hatte sich drei Wochen lang um sie gekümmert. Es waren die ersten Kinder aus den Flüchtlingslagern, die Deutschland aufnahm. Der damalige niedersächsische Innenminister Boris Pistorius war die treibende Kraft dahinter.
„Die Akademie Sonnenwinkel trifft den Nagel auf den Kopf. Wir brauchen Fachkräfte und Assistenzkräfte“, betonte Selle. Und in Anlehnung an die Abkürzung SPA sagte er: „Ein Spa ist ein Ort, an dem man sich wohlfühlt, wo es angenehm sein soll. Ich hoffe, dass es hier so ist.“

Katja Hesse ist seit Jahresbeginn Referentin zur Fachkräftegewinnung in der Kinder- und Jugendhilfe des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung. Die Akademie Sonnenwinkel sei eines ihrer ersten Projekte gewesen: „Diesen Abschluss bieten nur Sie in Niedersachsen an. Wir wollen den Quereinstieg damit erleichtern und Berufserfahrung honorieren. Ich wünsche der Akademie Sonnenwinkel viel Erfolg und hoffe auf viele neue Fachkräfte für Niedersachsen.“ Mit diesem Abschluss sei man der Kultusministerkonferenz voraus.

Ähnliche Worte wählte Kerstin Tack als Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Niedersachsen, dem auch der VSD angehört. „Ich freue mich, wenn ich in den nächsten Jahren von dem Erfolg hier höre und wir das Modell auf andere Standorte übertragen können.“ Bahnbrechende Geduld sei auf dem Weg bei all den Hürden nötig gewesen. Eine vergütete Ausbildung müsse aber normal in der Sozialen Arbeit sein. „Hier wird ein Weg beschritten, wo genau das Teil des Konzepts ist“, sagte sie. „Ich bin mir nicht sicher, ob den Schülerinnen und Schülern klar ist, wie sehr sie Pioniere sind.“ Für den Spitzenverband nehme sie die Frage mit, warum es das nicht überall gebe. „Wichtig ist, dass sich viele auf den Weg machen. Aber nicht jeder traut sich, so lange durchzuhalten.“

Zu diesem Schlusswort passte das Zitat von Basketball-Legende Michael Jordan, das Lena Kerlfeld in ihrer Begrüßung erwähnte. Frei übersetzt lautet es: „Manche wollen, dass es passiert, manche wünschen sich, dass es passiert, andere sorgen dafür, dass es passiert.“